Dysfunktionale Familien: Die Rolle des Sündenbocks
Warum bin ich immer an allem schuld? Wieso behandeln meine Eltern meine Geschwister besser als mich? Mit solchen und ähnlichen Fragen quälen sich viele Kinder, Jugendliche und selbst noch Erwachsene. Wie es dazu kommt, das in beinahe jeder Familie ein Mitglied der Familie zum Sündenbock bzw. schwarzen Schaf gemacht wird, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Heute stelle ich Ihnen den fünften Teil der mehrteiligen Serie „Familienrollen – Wenn die Rolle in der Familie zum Gefängnis wird“ vor, die Ihnen dabei helfen können, sich selbst, die Beziehung zu Ihren Bezugspersonen sowie Ihre Kindheit bzw. Jugend besser zu verstehen.
WER IST DER SÜNDENBOCK BZW. DAS SCHWARZE SCHAF?
Der Sündenbock bzw. das schwarze Schaf in einer Familie ist eine der undankbarsten Rollen, die ein Kind einnehmen kann bzw. die ihm zugewiesen wird. Sündenböcke dienen häufig als Blitzableiter und werden als Verursacher:innen von Unglück, Streitereien und/oder Pech in der Familie betrachtet.
Auf ihnen lastet die Verantwortung für das Wohlergehen der gesamten Familie, in extremen Fällen sogar der gesamten Verwandtschaft. Sie werden als andersartig wahrgenommen, stechen zumeist negativ heraus und bereiten der Familie aus elterlicher Sicht vor allem eines: Kummer, Sorgen – und Ärger.
AUF DER SUCHE NACH EINEM BZW. EINER SCHULDIGEN
Die Rolle des Sündenbocks bzw. des schwarzen Schafs ist eine tragische Rolle. Das Kind, auf dem diese Rolle lastet, leidet in mehrfacher Hinsicht. Und das Schlimmste: Es kann nichts richtig machen.
Schon früh lernt es, dass es keine Rolle spielt, wie es sich verhält, was es tut oder nicht tut – ihm wird von seinen Bezugspersonen bzw. Eltern grundsätzlich die Schuld und Verantwortung für jedes Missgeschick und jede unschöne Situation aufgeladen. Im Grunde genommen kann es nichts richtig machen, ganz gleich, wie sehr es sich auch anstrengen mag. Vermeintliche Schuld haftet an ihm wie eine zweite Haut, aus der es sich nicht befreien kann.
Ob es sich um elterliche Konflikte, geschwisterliche Auseinandersetzungen oder Ereignisse außerhalb der Familie handelt, das Kind, das sich in der Rolle des Sündenbocks befindet, wird (meist unbewusst) zum bzw. zur Mitschuldigen und/oder sogar Verantwortlichen gemacht.
AUßENSEITER UND AUßENSEITERIN IN DER EIGENEN FAMILIE
Familie ist nicht immer der Ort, an dem Kinder geborgen und sicher aufwachsen können. Kinder, die als Sündenböcke bzw. schwarze Schafe aufwachsen, bekommen das sehr deutlich am eigenen Leib zu spüren.
Kinder fragen sich verzweifelt immer wieder nach dem Warum.
Warum gerade ich? Warum mag meine Familie mich nicht? Was habe ich falsch gemacht? Was ist so falsch an mir?
Zu Beginn realisiert das Kind nicht, dass es völlig unerheblich ist, was es tut oder nicht tut. Immer wieder probiert es ein neues Verhalten aus, um eine andere Reaktion seiner Bezugspersonen bzw. Eltern hervorzurufen – und scheitert dabei jedoch jedes Mal aufs Neue. Denn das Problem liegt in der Regel nicht beim Kind.
GRÜNDE, WARUM MAN ZUM SÜNDENBOCK (GEMACHT) WIRD
Die Gründe dafür, dass ein Kind in der Familie zum Sündenbock gemacht wird, sind vielfältig – ihre Gemeinsamkeit besteht meist darin, dass das Kind durch diese Rolle das (dysfunktionale) Familiensystem weiterhin aufrechterhält, indem es für die negativen Spannungen, Emotionen und Konflikte verantwortlich gemacht wird.
Das kann bereits dadurch entstehen, dass das Kind wenig Gemeinsamkeiten mit seinen Eltern aufweist – angefangen von äußerlichen Erscheinungsmerkmalen bis hin zu Persönlichkeitsmerkmalen. Es kann auch sein, dass das Kind den Erwartungen an das kindliche Verhalten nicht gerecht wird (oder gerecht werden kann), indem die Eltern ein relativ rigides Verhalten einfordern: Abweichungen von der familiären Norm werden dann als bedrohlich empfunden und ihrerseits von den Eltern abgelehnt und abgewehrt. Das wiederum führt im kindlichen Erleben zur Ablehnung des Kindes selbst.
Weitere Gründe bestehen darin, dass Eltern sich ihre eigene Überforderung nicht eingestehen können oder wollen, ihre Hilf- und Ratlosigkeit sowie die Aufdeckung eigener Fehler um jeden Preis verhindern wollen. Deshalb benutzen sie das Kind als Projektionsfläche ihrer eigenen Unzulänglichkeiten.
Auf diese Weise wird paradoxerweise das Familiensystem aufrechterhalten: Die Familie klammert sich an die Rollenzuschreibungen und gleichzeitig erhält sie sich über diese aufrecht.
Aus welchen Gründen die Zuschreibung als Sündenbock und/oder schwarzes Schaf der Familie letztendlich auch erfolgt, die Folgen für das Kind und seine Entwicklung sind fatal. Ausgrenzung, Herabsetzung, Verweigerung von Zuwendung und/oder Beschuldigung hinterlassen ihre Spuren und prägen das kindliche Selbstbild massiv.
DIE GESCHWISTER DES SÜNDENBOCKS
Oft erfolgt innerhalb der Familie eine Aufteilung zwischen den Geschwistern, die sich zwischenzeitlich verändern kann, sich langfristig jedoch durchsetzt:
Ein Kind wird zum weißen, eines zum schwarzen Schaf. Und auch wenn es das weiße Schaf vermeintlich leichter hat, spürt auch dieses Kind die Erwartungen und den elterlichen Druck, nicht aus seiner Rolle zu fallen.
Zwischen den Geschwistern, die sich auf diese Weise wie zwei Pole diametral gegenüberstehen, entsteht allmählich Zwietracht, Neid, zunehmende Rivalität und/oder sogar Hassgefühle. Die elterliche Ungleichbehandlung, die einzig auf der Rollenzuweisung beruht, befeuert diese negative Entwicklung. Nicht selten dauert dieser Konflikt auch lange nach dem Auszug aus dem Elternhaus an, denn die erlebte Benachteiligung, Ausgrenzung und permanente Beschuldigung hinterlassen tiefe Spuren im emotionalen Gedächtnis.
Häufig brechen die ehemaligen Sündenböcke den Kontakt zur Familie gänzlich ab – auch und gerade zu den als bevorzugten und geliebter empfundenen Geschwistern.
FOLGEN FÜR DIE KINDER
Kinder, denen die Rolle des Sündenbocks bzw. des schwarzen Schafes zugeteilt wurde, tragen langfristige Schäden davon. Insbesondere ihr Selbstbild und die Eigenwahrnehmung leiden darunter, zum Prellbock und zum bzw. zur Schuldigen gemacht worden zu sein.
Sie neigen im Laufe des Lebens u. a. zu folgenden Verhaltensweisen:
- Sie suchen aus Prinzip die Schuld bei sich: Unabhängig davon, ob es um die Beziehung zu anderen Menschen geht – oder um mögliche Fehler.
- Sie vermeiden es, anderen Menschen ihr Vertrauen zu schenken, denn erneute Verletzungen und Enttäuschungen ertragen sie nicht (mehr).
- Sie stehen unter dem permanenten Druck, sich und ihren Wert beweisen zu müssen – dass jemand sie einfach so mögen könnte, halten sie für undenkbar.
- Sie ertragen es nicht, für etwas verantwortlich zu sein und lehnen daher oftmals von vorneherein jegliche Verantwortung ab. Beruflich bleiben sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, privat verstricken sie ihre Mitmenschen in Situationen, wie sie sie bereits aus ihrer Kindheit kennen.
- Sie tragen die tiefe Überzeugung in sich, im Kern ihres Wesens nicht liebenswert zu sein, nichts Gutes zu verdienen und mit Respektlosigkeit behandelt werden zu dürfen.
- Entweder klammern sie sich krampfhaft an ihre Beziehung und tun alles dafür, dass sie nicht verlassen werden – oder sie vermeiden es, jemanden in ihr Leben zu lassen bzw. halten selbst ihre:n Partner:in auf sicherem Abstand.
WAS SIE TUN KÖNNEN, UM VERGANGENEN SCHMERZ ZU VERARBEITEN UND LOSZULASSEN
Was können Sie tun, wenn Sie in Ihrer Familie der Sündenbock bzw. das schwarze Schaf waren?
Das Wichtigste vorab: Es ist niemals die Schuld des Kindes, wenn Bezugspersonen bzw. Eltern ihre Unzulänglichkeiten auf dem Rücken ihrer Kinder austragen. Niemals.
Die Gefühle von Unzulänglichkeit, Ungeliebtsein und/oder die tiefsitzende Überzeugung, falsch zu sein, müssen zunächst einmal erkannt und vor allem anerkannt werden. Einfach so zu tun, als ob das alles nie geschehen sei, ist wenig hilfreich. Ebenso wenig hilft es, Ressentiments zu haben, Hassgefühle zu entwickeln oder der Verbitterung anheimzufallen. Das wäre ungefähr so funktional, als ob man selbst Gift tränke und hoffte, ein anderer würde daran zugrunde gehen.
Stattdessen gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mit der Vergangenheit allmählich abzuschließen und womöglich sogar Frieden machen zu können. Nicht etwa, um das Erlebte einfach so hinzunehmen und/oder sogar als akzeptabel anzusehen – ganz im Gegenteil. Der Fokus liegt hier auf Ihnen selbst. Darauf, dass es Ihnen in Zukunft besser geht und ergeht, trotz der Dinge, die Sie erlebt und erfahren haben.
VERARBEITUNG IN 5 SCHRITTEN
Schritt 1: Das erlittene Unrecht benennen.
Schreiben oder nehmen Sie alles an Ungerechtigkeiten auf, die Sie erlebt haben. All das, was Ihnen fehlte und/oder Ihnen nicht gewährt wurde.
Wenn das Erlebte Sie jedoch zu stark belastet und auch Ihren Alltag beeinträchtigt, sollten Sie diesen Schritt im Rahmen einer psychologischen Beratung (oder sogar Psychotherapie) tun, um stabilisierende Methoden zu erlernen.
Schritt 2: Das erlittene Unrecht anerkennen.
Es war nicht fair oder gerecht. Es war nicht einmal ansatzweise in Ordnung. Wie man Sie behandelt hat, hatten Sie nicht verdient – und verdienen es auch heute nicht. Ihnen wurde zugemutet, was Ihre Bezugspersonen bzw. Eltern selbst nicht leisten konnten. Sie trugen die Last anstelle Ihrer Eltern.
Das war nicht richtig.
Schritt 3: Das Unrecht und seine Folgen betrauern.
Zu benennen, was in der Vergangenheit passiert ist, führt oftmals zu schmerzhaften Gefühlen – Gefühlen des Verlustes, Gefühlen der Wut und der Trauer. Manchmal keimen sogar Hassgefühle auf. Ihre Gefühle sind berechtigt, denn diese machen Sie zum einen darauf aufmerksam, was Ihnen widerfahren ist und zum anderen helfen sie dabei, den Schmerz zu akzeptieren und zu verarbeiten.
Der Trauerprozess verläuft nicht geradlinig, sondern in Wellen bzw. Phasen, mit Höhen und Tiefen. Und er benötigt Zeit.
Schritt 4: Ihre Einzigartigkeit anerkennen.
Es mag sein, dass Sie sich in irgendeiner Form von den übrigen Mitgliedern Ihrer Familie unterschieden – äußerlich und/oder innerlich. Das jedoch rechtfertigt nicht, was Sie erlebt haben. Es wäre vielmehr die Aufgabe Ihrer Eltern gewesen, an sich zu arbeiten, statt ihre Unzulänglichkeiten und Hilflosigkeit auf Sie zu projizieren.
So, wie Sie sind, sind Sie völlig einzigartig. Leider war es Ihren Eltern nicht möglich, mit dieser Einzigartigkeit (gut) umgehen zu können. Vielleicht hätte Ihre Familie Unterstützung gebraucht, um einen besseren Umgang finden zu können. Vielleicht hatten Sie aber auch einfach nicht die Eltern, die Sie gebraucht hätten.
Es geht hierbei nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, sich selbst zu würdigen, mit allem, was da ist. Sie sind einzigartig.
Schritt 5: Ihre Schwächen akzeptieren und Ihre Stärken würdigen.
Jedes Lebewesen kommt mit einem bestimmten Potenzial auf diese Welt. Nicht jedes Potenzial wird ausgeschöpft, nicht jedes Talent genutzt.
Jeder Mensch verfügt über Schattenseiten, unangenehme Eigenschaften und/oder verhält sich gelegentlich falsch. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie als Mensch falsch sind. Es bedeutet auch nicht, dass Sie schlecht sind.
Jeder von uns hat bestimmte Schwächen, aber auch bestimmte Stärken. Machen Sie sich beide bewusst. Akzeptieren Sie das, worin Sie (noch) nicht gut sind – und würdigen Sie das, worin Sie glänzen. Als Menschen sind wir von Perfektion und Vollkommenheit fasziniert, aber sie sind nicht der Maßstab für unseren Wert.
Ihr Wert als Mensch ist bereits dadurch gegeben, dass es Sie gibt.
Dieser gesamte Prozess muss oft mehrmals durchlaufen werden – und je schwieriger Ihre Erfahrungen waren, umso wichtiger ist es, dass Sie sich dafür gute und vertrauenswürdige Unterstützung suchen.
Meine Frage an Sie:
Wie haben Sie gemerkt, dass Sie der Sündenbock bzw. das schwarze Schaf der Familie waren (oder sogar noch sind)? Wie hat sich das auf Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern und/oder Geschwistern ausgewirkt?
Eine wichtige Erinnerung an Sie
- Die Zuschreibung Ihrer Eltern definiert nicht, wer und wie Sie sind.
- Sie tragen keine Schuld für die Fehler und Unzulänglichkeiten Ihrer Eltern.
- Sie dürfen selbst entscheiden, wie Sie leben wollen.
- Sie sind einzigartig auf diesem Planeten.
- Ihre Wünsche und Ziele müssen nicht mit denen Ihrer Eltern übereinstimmen.
- Sie haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, das Sie nach Ihren Vorstellungen gestalten.
- Sie sind kein Fehler, kein Unglück und auch kein Irrtum.
- Sie dürfen sich selbst wertschätzen, respektieren und lieben, denn Ihr Wert bemisst sich nicht an Ihren Leistungen, Ihrem Aussehen und/oder den Zuschreibungen anderer.
Wenn Sie bei diesem Prozess eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir.
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© 2023 Romy Fischer