Warum hört mein Kind nicht auf mich? Diese Frage stellen sich viele Eltern regelmäßig, wenn es um ihre Kinder geht. Nicht aber die Eltern eines braven Kindes. Weshalb das aber durchaus ein Grund zur Sorge sein kann, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Heute stelle ich Ihnen den zweiten Teil der mehrteiligen Serie „Familienrollen – Wenn die Rolle in der Familie zum Gefängnis wird“ vor, die Ihnen dabei helfen können, sich selbst, die Beziehung zu Ihren Bezugspersonen sowie Ihre Kindheit bzw. Jugend besser zu verstehen.
Brave, gehorsame Kinder, das sind die Kinder, die „problemlos“ mitlaufen, die vernünftig sind, ihren Altersgenossen häufig voraus und ihren Eltern in der Regel „keinen Kummer“ bereiten.
Doch der Preis für dieses angepasste Verhalten ist hoch – und es sind die Kinder, die ihn bezahlen müssen.
Im Gegensatz zu den übrigen Familienrollen, die ein Kind innerhalb einer dysfunktionalen Familie einnehmen kann, ist die des braven Kindes auf den ersten Blick vermeintlich unproblematisch – ja, aus elterlicher Sicht in der Regel sogar wünschenswert. Und dies umso mehr, je rebellischer sich die übrigen Geschwister verhalten.
Meist betrifft diese Rolle das mittlere Kind, das sogenannte „Sandwich-Kind“ in einer Familie. Zum braven bzw. unsichtbaren Kind wird ein Kind in vielen Fällen dann, wenn die Rolle des Sorgenkindes (bzw. Rebell:in, Unruhestifter:in und/oder Nesthäkchen) bereits durch Geschwister besetzt ist.
Das Fatale an dieser Rolle liegt an mehreren Faktoren: Zum einen vermittelt das brave Kind seinen Bezugspersonen durch sein vermeintlich unproblematisches Verhalten fälschlicherweise oft, sie würden bei ihrer Erziehung alles richtig machen. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, würde es sich schließlich gegen die elterliche Erziehung auflehnen, so die Annahme vieler Eltern.
Da das Kind sich angepasst und unauffällig verhält, in der Regel das tut, was ihm aufgetragen wird und sich stets darum bemüht, niemandem zur Last zu fallen, entsteht bei den Eltern der Eindruck, ein „pflegeleichtes“ oder „wohlgeratenes“ Kind zu haben.
Nur allzu oft resultiert das brave bzw. folgsame Verhalten jedoch daraus, dass das Kind von seinen Bezugspersonen in die Rolle des gehorsamen, vernünftigen Kindes hineingedrängt wurde.
Kinder sehen sich zu Beginn ihres Lebens durch die Augen ihrer Eltern, bevor sie sich ein eigenes Bild von sich selbst machen (können). Das betrifft auch die Art und Weise, wie Konflikte ausgetragen oder Gefühle geäußert (oder nicht geäußert) werden und wirkt sich außerdem auf die Wahrnehmung der Welt sowie der Menschen darin aus.
Elterliche Liebe, Fürsorge und Zuwendung sind für Kinder überlebensnotwendig, sodass sie alles Erdenkliche tun bzw. aushalten, um diese nicht zu verlieren. Bemerkt ein Kind etwa, dass seine Gefühlsregungen bestimmte (negative) Reaktionen bei seinen Eltern hervorrufen, kann es passieren, dass es diese künftig unterdrückt oder nur noch dann äußert, wenn es sich unbeobachtet wähnt.
So wirkt sich die Anpassung des Kindes auf seinen Umgang mit Gefühlen sowie seinen Gefühlsausdruck, sein Vertrauen in die familiäre Sicherheit und nicht zuletzt auf seine künftigen Beziehungserfahrungen aus.
Unerwünschte Gefühle wie Wut, Trauer und/oder übermäßige Freude werden nicht ausgedrückt, da das Kind glaubt, entweder seine eigene Beziehung zu seinen Bezugspersonen zu gefährden – oder es annimmt, dass von seinem angepassten Verhalten die Beziehung der Bezugspersonen zueinander abhängt.
Dazu zählt auch, dass sie ein mögliches Scheitern der elterlichen Beziehung als ihre Schuld ansehen und umso stärker darum bemüht sind, den Eltern keine weiteren Gründe für Auseinandersetzungen zu liefern.
Aber auch die Existenz rebellischer Geschwister kann dazu führen, dass das Kind sich in die Rolle des folgsamen Familienmitglieds gedrängt sieht, wenn es etwa aus eigenem Bestreben darum bemüht ist, seine Eltern nicht (zusätzlich) zu belasten. Ebenso kann es allerdings sein, dass es die direkte Botschaft seiner Eltern erhält, „zum Glück nicht so anstrengend wie der Bruder/die Schwester zu sein“.
Die Funktion, die das brave Kind in seiner Familie erfüllt, besteht zum einen darin, ihr (fragiles) Selbstbild als Eltern aufrechtzuerhalten. Schließlich ist es ihnen ja offensichtlich gelungen, zumindest ein Kind „richtig“ zu erziehen. Dass das andere Kind bzw. die anderen Kinder „missraten“ sind, wird den unangepassten Kindern angelastet – nicht aber der elterlichen Erziehung bzw. dem familiären Umgang miteinander.
Eine weitere Funktion besteht in der Entlastung der Eltern, die etwa durch ein weiteres (z. B. erkranktes) Kind und/oder persönliche Probleme belastet sind.
Kinder übernehmen dann als Reaktion darauf die Rolle, die am ehesten zur Entlastung ihrer Eltern beiträgt. Auf diese Weise bürden sie sich eine überfordernde Aufgabe auf, deren Erfüllung weitreichende Konsequenzen nach sich zieht.
Kinder, die die Rolle des braven Kindes übernommen haben, neigen im Laufe des Lebens u. a. zu folgenden Verhaltensweisen:
Je nachdem, wie tief diese Verhaltensmuster reichen, werden sie oftmals mit der eigenen Persönlichkeit verwechselt. Tatsächlich resultieren sie jedoch meist aus der Angst heraus, verlassen, nicht mehr wertgeschätzt und/oder geliebt zu werden.
Diese Ängste beruhen sehr oft auf der realen Erfahrung, von den eigenen Bezugspersonen abgelehnt worden zu sein, wenn man sich als Kind „unangepasst“, „unvernünftig“, „ungehorsam“, „fordernd“ oder „aufmüpfig“ verhielt. Tragischerweise wird die vergangene Erfahrung auf alle künftigen Beziehungen übertragen – sei es im Hinblick auf Freundschaften, berufliche Kontakte und/oder neue Partner:innen.
Um diese Verhaltensmuster zu durchbrechen und neue, gesündere Verhaltensweisen zu erlernen, kann eine begleitende Unterstützung sinnvoll sein. Zum einen, um eine Außenperspektive auf die eigene Situation zu erhalten und zum anderen, um sich allmählich an ein neues Verhalten heranzutasten, ohne Gefahr zu laufen, unmittelbar wieder in alte Muster zurückzufallen.
Dabei werden wiederkehrende Muster aufgedeckt, verinnerlichte Glaubenssätze wie „Ich werde nur geliebt, wenn ich mich gefügig verhalte“ kritisch hinterfragt und durch adäquatere („Auch wenn ich unbequem bin, mögen mich meine Mitmenschen noch“) ersetzt.
Fühlten Sie sich als Kind gesehen? Durften Sie Bedürfnisse haben?
Wenn Sie bei diesem Prozess eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir.
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© 2023 Romy Fischer
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