Gewalt in der Familie – Generation geschlagene Kinder

Photo by Trym Nilsen on Unsplash

Gewalt in der Familie – Generation geschlagene Kinder

Gewalt an Kindern und insbesondere Gewalt in der Familie ist noch immer häufig ein Tabuthema. Jährlich werden mehrere tausend Fälle von Kindesmisshandlung angezeigt. 2022 sind es 3.516 Fälle von Misshandlung von Kindern allein in Deutschland.

Welche Folgen die körperliche und psychische Gewalt an den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft nach sich ziehen und wie Sie heute damit umgehen können, wenn Sie als Kind und/oder Jugendliche:r Gewalt erlebt haben, erfahren Sie im heutigen Beitrag.

Quelle: https://www.destatis.de/

Photoy by Maksym Kaharlytskyi on Unsplash

GEWALT HAT VIELE GESICHTER

    • „Das war doch nur ein Klaps auf den Po (die Finger)!“
    • „Die paar Schläge haben mir überhaupt nicht geschadet.“
    • „Ich habe nur etwas hinter die Löffel bekommen, wenn ich es auch wirklich verdient habe.“
    • „Es waren doch nur ein paar Backpfeifen.“
    • „Schlagen gehört zur Erziehung dazu.“
    • „Wer nicht hören will, muss fühlen!“
    • „Die Kinder von heute sind völlig verweichtlicht, früher hätte es dafür Prügel gegeben!“
    • „Das hat doch kaum wehgetan.“
    • „Es kam ja auch nur selten vor, dass sie zugeschlagen haben.“
    • „Schreien ist doch keine Gewalt.“ 
    • „In der Ecke zu stehen hat mir nicht wehgetan.“
    • „Sie haben es nur gut gemeint.“
    • „Sie wussten es einfach nicht besser.“
    • „Ich war ja auch ein schwieriges Kind.“

Kommen Ihnen einige dieser Aussagen vertraut vor – oder haben Sie selbst manchmal den Gedanken, dass das alles doch eigentlich gar nicht so schlimm war oder längst Schnee von gestern sein sollte?

Doch, das war es. Es war schlimm. Es war grenzverletzend, beängstigend, beschämend, demütigend, bedrohlich, ja, vielleicht sogar lebensbedrohlich.

Für ein besseres Verständnis möchte ich Ihnen die Situation ein wenig veranschaulichen, denn bedauerlicherweise halten viele Menschen auch heute noch an körperlichen Strafen fest – und das, obwohl Kinder seit 2000 (!) das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben:

„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig”.

(BGB § 1631 Abs. 2: Recht auf gewaltfreie Erziehung)

Und auch emotionale bzw. psychische Gewalt stellt Gewalt dar.

Emotionale, psychische oder auch seelische Gewalt umfasst ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die eine Gewaltausübung beschreiben, welche ohne Schläge auskommt.

Stellen Sie sich einmal vor, jemand, der zwei bis dreimal so groß ist wie Sie (so sieht das Größenverhältnis von Kindern und Erwachsenen nämlich in der Regel aus!), beugt sich zu Ihnen herunter, schreit Sie von oben an, erhebt womöglich drohend die Hand, zerrt Sie am Handgelenk, damit Sie ihm folgen und/oder schlägt zu. Diese Person ist nicht irgendein Wildfremder auf der Straße und auch kein „Schlägertyp“, nein, es handelt sich um den bzw. die Menschen, von denen Sie genau das Gegenteil erwarten können sollten – Ihre Eltern. Ihre Eltern, von denen Sie Liebe, Fürsorge, Respekt, Autonomie, Geborgenhalt, Halt, Schutz und angemessene gesetzte und durchgesetzte Grenzen erfahren sollten.

Schläge, Anschreien, der Einsatz von körperlicher oder psychischer Gewalt im Allgemeinen stellen keine Erziehungsmaßnahmen dar. Sie lehren weder Respekt noch Achtung, sondern sind in letzter Konsequenz das Eingeständnis erzieherischen (und zuweilen auch persönlichen) Versagens. Oder kämen Sie etwa auf die Idee, Ihren Willen bei Ihrem bzw. Ihrer Vorgesetzten, Ihren Freund:innen oder Ihren Eltern mit körperlicher (oder psychischer) Gewalt durchzusetzen, sich mit Schlägen vermeintlichen Respekt zu verschaffen oder Drohungen gar für eine angemessene Form der Kommunikation zu halten, um Ihren Standpunkt zu verdeutlichen?

Und doch ist es genau das, was viele Kinder – selbst Kleinstkinder und Säuglinge – tagtäglich erleben, erleiden und aushalten müssen, ohne sich dagegen wehren zu können: Erziehungs- und sorgeberechtigte Bezugspersonen wenden ihre körperliche Überlegenheit an, um Ihren „Willen durchzusetzen“, „Konsequenzen aufzuzeigen“, „Respekt zu lehren“ – und so weiter und so fort. 

Wenn man seine Mitmenschen nicht auf diese Weise behandelt, weswegen sollte man es dann mit den eigenen Kindern tun?

Photo by Robin Phoenix on Unsplash

WARUM SCHLAGEN ELTERN IHRE KINDER?

Warum schlagen Eltern ihre Kinder? Selbst diejenigen, die Gewalt im Grunde ablehnen und sich womöglich sogar als Pazifist:innen betrachten?

Es gibt viele Gründe, weshalb Gewalt ihren Weg in die Familien findet. Sie findet in finanziell benachteiligten, aber auch in wohlhabenden Familien statt. Oft ist sie Ausdruck eigener Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ebenso oft beruht sie auf eigenen Gewalterfahrungen in der Vergangenheit und wird als (scheinbar) einzig verfügbares Verhalten in herausfordernden Situationen abgerufen (etwa durch Stress und Überforderung), zuweilen beruht sie auf der häufigen, wenngleich auch falschen Vorstellung, körperliche oder psychische Formen der Bestrafung seien adäquate – angemessene – Erziehungsformen (etwa beeinflusst durch den geschichtlichen und/oder kulturellen Hintergrund – man denke etwa an die Schwarze Pädagogik).

Aber es kann auch eine Verschiebung stattfinden, wenn etwa die Wut, der Ärger oder der Frust eigentlich jemand anderem gelten, diese Person jedoch nicht „verfügbar“ ist, weil die daraus resultierenden Konsequenzen augenscheinlich fataler auszufallen scheinen, wie etwa bei dem bzw. der Vorgesetzten (beispielsweise eine Anzeige und Kündigung).

Auch Konflikte in der Paarbeziehung können sich statt beim Partner oder bei der Partnerin beim Kind entladen, teilweise ganz bewusst (denn das Kind kann einen im Gegensatz zum Partner nicht einfach „verlassen“ oder die Beziehung aufkündigen), teilweise jedoch auch unbewusst – etwa wenn ein augenscheinlich kindliches „Fehlverhalten“ zusätzlich zum bereits existierenden Konflikt auftritt, das das Fass zum Überlaufen bringt und dieses „Fehlverhalten“ mittels einer gewaltvollen Handlung „korrigiert“ wird.

Photo by Jess Zoerb on Unsplash

WAS SIND DIE FOLGEN VON GEWALT IN DER KINDHEIT?

Gewalt in der Kindheit hat verheerende Folgen für die Kinder, sowohl für ihre psychische als auch körperliche Gesundheit. Das Risiko für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen wie etwa Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen ist bei den betroffenen Kindern erhöht. Selbst die Gehirnstrukturen verändern sich infolge von Gewalterfahrungen.

Darüber hinaus steigert erfahrene Gewalt das Risiko, erneut Gewalt im Leben zu erfahren oder auch selbst gewalttätig zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, Kinder vor emotionaler und körperlicher Gewalt zu schützen.

WAS KANN ICH TUN, WENN ICH MEINE KINDER SCHLAGE?

Wenn Sie sich selbst gegenüber eingestehen können, dass Sie Gewalt ausgeübt haben, ist das ein erster möglicher Schritt, um aus der Gewaltspirale auszusteigen. Wichtig ist es an dieser Stelle den bzw. die Auslöser für die Gewalt ausfindig zu machen und sie nach Möglichkeit zu reduzieren oder bestenfalls ganz zu eliminieren.

Bei Erziehungsschwierigkeiten kann es hilfreich und entlastend sein, eine entsprechende (beispielsweise psychologische) Beratungsstelle aufzusuchen, sich freundschaftliche und/oder familiäre Unterstützung zu suchen und gegebenenfalls auch eine Psychotherapie zu beginnen. Dabei geht es nicht darum, Ihnen Ihr Kind zu entziehen, sondern darum, sowohl den Ursachen auf den Grund zu gehen als auch nach konkreten Lösungsstrategien zu suchen, die die Ausübung von Gewalt verhindern. 

Greifen Sie auf Unterstützung zurück, wenn Sie bemerken, dass Sie wiederholt die Kontrolle über Ihr Handeln verlieren.

Führen Sie sich die weitreichenden Konsequenzen für Ihr Kind vor Augen, wenn Sie einen vermeintlichen Sieg über das sogenannte „Fehlverhalten“ (was häufig nichts anderes darstellt, als die ganz normale Entwicklung kindlichen Autonomiestrebens – oder der Lernprozess, die eigenen kindlichen Emotionen zu regulieren) erringen.

Versetzen Sie sich in die Perspektive Ihres Kindes, wenn Ihre Gefühle hochkochen und Sie den Impuls, es verbal oder körperlich anzugehen, verspüren – es ist Ihnen und Ihrem Verhalten in seiner kindlichen Ohnmacht und Hilflosigkeit ausgeliefert.

Fragen Sie sich immer wieder, ob Sie auch mit den Erwachsenen in Ihrem Umfeld so umgehen würden, wie Sie es mit Ihrem Kind tun (Drohen, Schreien, Schläge etc.).

Lernen Sie Ihre Triggerpunkte kennen und bereiten Sie sich auf herausfordernde Situationen vor (Termindruck, Schlafmangel, scheinbar fehlende Kooperation, das Abdecken eigener Grundbedürfnisse wie Durst, Hunger, Toilettengang etc.).

Und ganz wichtig: Gestehen Sie Ihrem Kinder gegenüber ein, dass Ihr Verhalten nicht in Ordnung war. Bitten Sie Ihr Kind um Entschuldigung, erklären Sie ihm, dass Ihr Verhalten falsch war und nicht vorkommen darf.

Photo by Jackson David on Unsplash

WARUM SIE NICHTS VERZEIHEN MÜSSEN

Häufig verlangen die betagten Eltern, die „Vergangenheit doch endlich ruhen zu lassen“, es sei schließlich alles „nicht so schlimm gewesen“, „alle hätten es so gemacht“, „damals wäre es erlaubt gewesen“ und „geschadet hätte es ja auch nicht“. (Und indirekt häufig auch die Frage: „Und wer wisse schon, was heute aus Ihnen geworden wäre, wenn man Sie nicht geschlagen hätte?“) 

Nein, Sie müssen Ihren Eltern weder vergeben noch verzeihen. Sie müssen es auch nicht vergessen oder verdrängen, um ein zufriedenstellendes und glückliches Leben führen zu können.

Sie dürfen es, wenn Sie es möchten und sich die Vergebung stimmig für Sie anfühlt – aber Sie müssen es nicht, weil es von Ihnen erwartet oder verlangt wird.

Es gibt eine gleichermaßen berührende wie ergreifende Szene im Film „Good Will Hunting“ mit den Schauspielern Matt Damon und Robin Williams, in der Robin Williams in der Rolle des Therapeuten die Worte „Du kannst nichts dafür.“ mehrfach wiederholt, um Will – seinem Patienten (Matt Damon) – zu verdeutlichen, dass er keine Schuld an dem trug, was ihm in der Kindheit widerfahren war.

Diese Worte wiederholt er immer wieder, bis sein Patient Will (Matt Damon) dem erlittenen Schmerz über seine gewaltvolle Kindheit freien Lauf lassen kann und dabei Halt, Fürsorge und Verständnis erfährt. 

SIE KONNTEN NICHTS DAFÜR

In seinem Leid gesehen zu werden und es sich selbst zuzugestehen, Leid erfahren zu haben, als man klein und ohnmächtig war, sich nicht wehren oder schützen konnte, kann sehr schmerzvoll und befreiend zugleich sein. 

Das, was Sie erlebt und erfahren haben, war weder Ihre Schuld noch Ihre Verantwortung. Sie konnten nichts dafür.

Sie konnten nichts dafür.

Photo by Mercedes Bosquet on Unsplash

Meine Frage an Sie:

Haben Sie in Ihrer Kindheit Gewalt erfahren? Gab es jemanden, der Sie unterstützte und für Sie da war? Was würden Sie dem Kind von damals heute gerne sagen?

Eine wichtige Erinnerung an Sie

  • Sie müssen weder vergeben noch verzeihen, nur weil es von Ihnen erwartet oder verlangt wird
  • Sie dürfen den Schmerz zulassen und trauern – und Sie dürfen ihn mit der Zeit auch Stück für Stück loslassen.
  • Es war nicht Ihre Schuld.
  • Es. War. Nicht. Ihre. Schuld.

Wenn Sie bei diesem Prozess eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir.

 

Weitere Kanäle, auf denen Sie regelmäßig neue Inhalte von mir finden, sind derzeit Facebook und Instagram.

 

© 2023 Romy Fischer

Schuldgefühle: Warum ich mich immer schuldig fühle

Photo by Omar Prestwich on Unsplash

Schuldgefühle: Warum ich mich immer schuldig fühle 

Schuldgefühle: Warum ich mich immer schuldig fühle. Schuldgefühle sind bis zu einem gewissen Grad ein „normaler“ Teil unseres Lebens, wenn sie uns etwa darauf aufmerksam machen, dass wir uns falsch verhalten haben und uns aufgrund dieses Fehlverhaltens nun schuldig fühlen. 

Wenn Ihnen allerdings Sätze wie Du bist schuld! oder Das ist alles deine Schuld! auf eine unangenehme Art und Weise sehr vertraut vorkommen und Schuldgefühle eine der ersten Reaktionen bilden, in denen andere mit Wut, Ärger oder Überraschung reagieren würden, kann das ein erster Hinweis darauf sein, dass Sie an einer ungesunden Form von Schuldgefühlen leiden.

Welche Auswirkungen es hat, unter kontinuierlichen bzw. auch reflexhaften Schuldgefühlen zu leiden und wie Sie sich von diesen distanzieren können, erfahren Sie im heutigen Beitrag.

Photo by Donald Giannatti onUnsplash

SCHULD VS. SCHULDGEFÜHLE

Fühlen Sie sich oft schuldig, auch ohne eine konkrete Ursache oder ein konkretes Fehlverhalten Ihrerseits benennen zu können?

Schuldgefühle können hartnäckige Begleiter sein, die sich nur schwer abschütteln lassen. Manche von ihnen entstehen bereits in der Kindheit und Jugend und verfolgen einen bis ins hohe Erwachsenenalter.

Gefühle der Schuld stellen das subjektive Erleben einer Person dar. Sie lassen sich nicht quantifizieren – also in ein Zahlen- oder Mengenverhältnis übersetzen – im Sinne von „ich fühle mich schuldiger als du“. Außerdem sind sie keinesfalls immer mit einem Verhalten verknüpft, das sie hervorruft. Tatsächlich könnte sich jemand immer richtig verhalten und richtig handeln und trotzdem unter Schuldgefühlen leiden oder sich schuldig fühlen.

Im juristischen Kontext spricht man bei Schuld in der Regel von einem normativen Schuldbegriff. Damit wird die „individuelle Vorwerfbarkeit der strafbedrohten Tat“ bezeichnet. Schuldhaftes Handeln ist dabei entweder vorsätzlich oder fahrlässig; als schuldfähig gilt jede Person ab einem Alter von 14 Jahren. 

Quelle: https://www.juraforum.de/

Photo by Naveen Kumar on Unsplash

SCHULDGEFÜHLE STABILISIEREN DAS FAMILIENSYSTEM

Schuldgefühle: Warum ich mich immer schuldig fühle

Nicht selten sind Schuldgefühle, die Sie über einen langen Zeitraum hinweg begleiten, mit früh erworbenen Glaubenssätzen verknüpft. Gerade Kinder sind sehr sensibel für die verbalen und nonverbalen Äußerungen ihrer engsten Bezugspersonen. Wurde ihnen schon früh vermittelt, für schlechte Stimmung innerhalb der Familie, die Befindlichkeiten der Familienmitglieder oder auch äußere Umstände wie gescheiterte Karrieren, Jobverluste, Krankheiten wie Depression oder Alkoholabhängigkeit verantwortlich zu sein, hat das langfristige Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen.

Das Perfide an Schuldgefühlen ist, dass sie nicht nur als quälend erlebt werden, sondern mit der Zeit zu einem Teil der eigenen Identität werden können.

Ein extremes Beispiel hierfür ist die Rolle des Sündenbocks bzw. des schwarzen Schafs in der Familie, das die personifizierte Schuld repräsentiert. In ihm konzentriert sich quasi alle Schuldhaftigkeit und Verantwortung innerhalb des Familiensystems, was es entlastet und stabilisiert zugleich.

Photo by Jordan McQueen on Unsplash

MAX‘ UNBERECHTIGTE SCHULDGEFÜHLE 

Schuldgefühle können tief verankert sein. Bei vielen Menschen, die von Schuldgefühlen regelrecht heimgesucht werden, bilden sie sogar einen nicht zu trennenden Teil der eigenen Identität. Es gelingt ihnen dann nicht mehr, zwischen berechtigten Schuldgefühlen, die als Reaktion auf ein Fehlverhalten hin entstanden sind, und Schuldgefühlen, die jeglicher nachvollziehbaren Grundlage entbehren, zu unterscheiden.

Ein Beispiel hierfür wäre, dass jemand starke Schuldgefühle empfindet, weil er oder sie einen (einfachen) Gefallen abschlägt. Um diesen Gefühlen nicht ausgeliefert zu sein, liefert die Person etwa viele wortreiche Entschuldigungen und/oder versucht – oft sogar vorauseilend – Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um den Gefallen doch noch zu ermöglichen, ohne dabei auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. 

DER BRAVE MAX

Nennen wir diese Person der Einfachheit halber Max. Max gilt als hilfsbereiter Mensch, der immer einspringt, wenn Not am Mann ist. Ein Nein kommt ihm so gut wie nie über die Lippen und falls es doch einmal passiert, wird er von unerträglichen Schuldgefühlen geplagt. Ihr Ursprung liegt – wie bei vielen von Schuldgefühlen Geplagten – in seiner Kindheit. Er wurde dazu erzogen, einem bestimmten Bild zu entsprechen, das die Eltern sich von ihm machten. In seinem Fall das des braven, verantwortungsvollen, hilfsbereiten Jungen, der die Eltern unterstützt und ihnen keinen Kummer oder Sorgen bereitet. Tat er dies nicht, wurde ihm der oft unausgesprochene Vorwurf gemacht, für das Leid und die Sorgen der Eltern – also ihr Wohlbefinden – verantwortlich zu sein. Aus dem kindlichen schlechten Gewissen entwickelten sich auf diese Weise über die Zeit hinweg immer stärker ausgeprägte Schuldgefühle, die sich auf verschiedene Lebensbereiche ausdehnten.

Zunächst einmal ist der Wunsch der Eltern nicht verwerflich, aber es erlegt dem Jungen eine schwere Last auf, unter der er womöglich nicht zerbrechen, die ihm aber langfristig schaden wird. Denn natürlich kann Max gar nicht anders, als diesem Bild zu irgendeinem Zeitpunkt nicht zu entsprechen. Das kann während der Pubertät und der Abnabelung von den Eltern passieren oder auch erst, wenn er von zu Hause auszieht, um zum ersten Mal auf eigenen Beinen zu stehen.

Selbst heute noch reagiert Max mit Schuldgefühlen, wenn er annimmt, dass das Wohlbefinden anderer von ihm und seinem Verhalten abhängt. Dazu müssen nicht einmal verbale Vorwürfe fallen, er antizipiert sie bereits, d. h. er nimmt sie vorweg und fühlt sich bereits dann schuldig, wenn er einmal „Nein“ sagen muss – ganz gleich, wie berechtigt sein Nein auch sein mag. 

Photo by Jordan Madrid on Unsplash

WAS MAN GEGEN UNBERECHTIGTE SCHULDGEFÜHLE TUN KANN – UND WAS NICHT

Schuldgefühle sind häufig sehr hartnäckig und der Vernunft oft nicht zugänglich. Sie können sich unter Umständen durchaus im Klaren darüber sein, dass Ihre Schuldgefühle in einer bestimmten Situation unberechtigt und sogar unangebracht sind, aber gegen Ihre Emotion kommen Sie rational in der Regel nicht an.

Zunächst einmal ist es wichtig zu unterscheiden, ob es sich um berechtigte oder unberechtigte Schuldgefühle handelt. Haben Sie sich etwa falsch verhalten, dann sind Ihre Schuldgefühle eine „normale“ oder „gesunde“ Reaktion auf dieses Fehlverhalten, das nach Klärung verlangt. Das könnte etwa eine Entschuldigung oder Wiedergutmachung sein – unter Umständen auch erst einmal das Bekenntnis zur Schuld.

PROFESSIONELLE UNTERSTÜTZUNG SUCHEN

Handelt es sich bei Ihren Schuldgefühlen jedoch um ein wiederkehrendes Muster, das häufig völlig losgelöst von konkreten Situationen und Personen existiert, dann kann es sehr sinnvoll sein, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und der bzw. den möglichen Ursachen auf den Grund zu gehen. Das löst die Schuldgefühle in der Regel nicht auf, liefert Ihnen jedoch eine erste Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet Sie sich immer schuldig fühlen. Insbesondere in der Rolle des Sündenbocks innerhalb einer Familie bilden Schuldgefühle häufige „Begleiterscheinungen“ oder auch „Nebenwirkungen“, gerade dann, wenn Beschuldigung als Erziehungsmethode angewandt wurde („Deinetwegen geht es mir schlecht. / Wegen dir wurde ich unglücklich. / Du bist der Grund dafür, dass es bei uns so zugeht. / Wärst du mehr wie [beliebige Person], dann wäre alles gut.“).

In letzterem Fall ist es sehr schwierig, das Emotions- und Verhaltensmuster allein und ohne professionelle Unterstützung auflösen zu wollen. Je nach Schweregrad und Beeinträchtigung Ihres Lebens käme dann eine psychologische Beratung oder auch eine Psychotherapie in Betracht. Gerne würde ich Ihnen berichten, dass das Befolgen von 5 Schritten dazu führt, sich weniger schuldig zu fühlen – aber dem ist nicht so. Vielmehr benötigt es die Perspektive von außen, eine neutrale Person, mithilfe derer Sie gemeinsam Stück für Stück die Schuldgefühle betrachten, verstehen und schließlich loslassen können. Denn trotz ihrer verheerenden Wirkung sind sie nicht selten so vertraute Begleiter und enge Bekannte, dass es schwerfällt, sich auf neue Gefühle einzulassen. Und wo die Schuldgefühle fehlen, klafft zunächst eine Lücke auf, die es auszuhalten und im Laufe der Zeit mit neuen Gefühlen zu füllen gilt. Etwa berechtigter Ärger, Traurigkeit, Wut – aber auch Freude, Leichtigkeit und Glück.

Photo by Mercedes Bosquet on Unsplash

Meine Frage an Sie:

Wie alt sind Ihre Schuldgefühle? Wer machte Ihnen häufig Schuldgefühle? Wie sind Sie mit diesen Gefühlen umgegangen bzw. wie gehen Sie heute mit ihnen um?

Eine wichtige Erinnerung an Sie

  • Sie sind nicht Ihre Schuldgefühle

Wenn Sie bei dem Prozess des Auflösens Ihrer Schuldgefühle eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir.

 

Weitere Kanäle, auf denen Sie regelmäßig neue Inhalte von mir finden, sind derzeit Facebook und Instagram.

 

© 2023 Romy Fischer