Gewalt in der Familie – Generation geschlagene Kinder

Photo by Trym Nilsen on Unsplash
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Gewalt in der Familie – Generation geschlagene Kinder

Gewalt an Kindern und insbesondere Gewalt in der Familie ist noch immer häufig ein Tabuthema. Jährlich werden mehrere tausend Fälle von Kindesmisshandlung angezeigt. 2022 sind es 3.516 Fälle von Misshandlung von Kindern allein in Deutschland.

Welche Folgen die körperliche und psychische Gewalt an den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft nach sich ziehen und wie Sie heute damit umgehen können, wenn Sie als Kind und/oder Jugendliche:r Gewalt erlebt haben, erfahren Sie im heutigen Beitrag.

Quelle: https://www.destatis.de/

Photoy by Maksym Kaharlytskyi on Unsplash
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GEWALT HAT VIELE GESICHTER

    • „Das war doch nur ein Klaps auf den Po (die Finger)!“
    • „Die paar Schläge haben mir überhaupt nicht geschadet.“
    • „Ich habe nur etwas hinter die Löffel bekommen, wenn ich es auch wirklich verdient habe.“
    • „Es waren doch nur ein paar Backpfeifen.“
    • „Schlagen gehört zur Erziehung dazu.“
    • „Wer nicht hören will, muss fühlen!“
    • „Die Kinder von heute sind völlig verweichtlicht, früher hätte es dafür Prügel gegeben!“
    • „Das hat doch kaum wehgetan.“
    • „Es kam ja auch nur selten vor, dass sie zugeschlagen haben.“
    • „Schreien ist doch keine Gewalt.“ 
    • „In der Ecke zu stehen hat mir nicht wehgetan.“
    • „Sie haben es nur gut gemeint.“
    • „Sie wussten es einfach nicht besser.“
    • „Ich war ja auch ein schwieriges Kind.“

Kommen Ihnen einige dieser Aussagen vertraut vor – oder haben Sie selbst manchmal den Gedanken, dass das alles doch eigentlich gar nicht so schlimm war oder längst Schnee von gestern sein sollte?

Doch, das war es. Es war schlimm. Es war grenzverletzend, beängstigend, beschämend, demütigend, bedrohlich, ja, vielleicht sogar lebensbedrohlich.

Für ein besseres Verständnis möchte ich Ihnen die Situation ein wenig veranschaulichen, denn bedauerlicherweise halten viele Menschen auch heute noch an körperlichen Strafen fest – und das, obwohl Kinder seit 2000 (!) das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben:

„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig”.

(BGB § 1631 Abs. 2: Recht auf gewaltfreie Erziehung)

Und auch emotionale bzw. psychische Gewalt stellt Gewalt dar.

Emotionale, psychische oder auch seelische Gewalt umfasst ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die eine Gewaltausübung beschreiben, welche ohne Schläge auskommt.

Stellen Sie sich einmal vor, jemand, der zwei bis dreimal so groß ist wie Sie (so sieht das Größenverhältnis von Kindern und Erwachsenen nämlich in der Regel aus!), beugt sich zu Ihnen herunter, schreit Sie von oben an, erhebt womöglich drohend die Hand, zerrt Sie am Handgelenk, damit Sie ihm folgen und/oder schlägt zu. Diese Person ist nicht irgendein Wildfremder auf der Straße und auch kein „Schlägertyp“, nein, es handelt sich um den bzw. die Menschen, von denen Sie genau das Gegenteil erwarten können sollten – Ihre Eltern. Ihre Eltern, von denen Sie Liebe, Fürsorge, Respekt, Autonomie, Geborgenhalt, Halt, Schutz und angemessene gesetzte und durchgesetzte Grenzen erfahren sollten.

Schläge, Anschreien, der Einsatz von körperlicher oder psychischer Gewalt im Allgemeinen stellen keine Erziehungsmaßnahmen dar. Sie lehren weder Respekt noch Achtung, sondern sind in letzter Konsequenz das Eingeständnis erzieherischen (und zuweilen auch persönlichen) Versagens. Oder kämen Sie etwa auf die Idee, Ihren Willen bei Ihrem bzw. Ihrer Vorgesetzten, Ihren Freund:innen oder Ihren Eltern mit körperlicher (oder psychischer) Gewalt durchzusetzen, sich mit Schlägen vermeintlichen Respekt zu verschaffen oder Drohungen gar für eine angemessene Form der Kommunikation zu halten, um Ihren Standpunkt zu verdeutlichen?

Und doch ist es genau das, was viele Kinder – selbst Kleinstkinder und Säuglinge – tagtäglich erleben, erleiden und aushalten müssen, ohne sich dagegen wehren zu können: Erziehungs- und sorgeberechtigte Bezugspersonen wenden ihre körperliche Überlegenheit an, um Ihren „Willen durchzusetzen“, „Konsequenzen aufzuzeigen“, „Respekt zu lehren“ – und so weiter und so fort. 

Wenn man seine Mitmenschen nicht auf diese Weise behandelt, weswegen sollte man es dann mit den eigenen Kindern tun?

Photo by Robin Phoenix on Unsplash
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WARUM SCHLAGEN ELTERN IHRE KINDER?

Warum schlagen Eltern ihre Kinder? Selbst diejenigen, die Gewalt im Grunde ablehnen und sich womöglich sogar als Pazifist:innen betrachten?

Es gibt viele Gründe, weshalb Gewalt ihren Weg in die Familien findet. Sie findet in finanziell benachteiligten, aber auch in wohlhabenden Familien statt. Oft ist sie Ausdruck eigener Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ebenso oft beruht sie auf eigenen Gewalterfahrungen in der Vergangenheit und wird als (scheinbar) einzig verfügbares Verhalten in herausfordernden Situationen abgerufen (etwa durch Stress und Überforderung), zuweilen beruht sie auf der häufigen, wenngleich auch falschen Vorstellung, körperliche oder psychische Formen der Bestrafung seien adäquate – angemessene – Erziehungsformen (etwa beeinflusst durch den geschichtlichen und/oder kulturellen Hintergrund – man denke etwa an die Schwarze Pädagogik).

Aber es kann auch eine Verschiebung stattfinden, wenn etwa die Wut, der Ärger oder der Frust eigentlich jemand anderem gelten, diese Person jedoch nicht „verfügbar“ ist, weil die daraus resultierenden Konsequenzen augenscheinlich fataler auszufallen scheinen, wie etwa bei dem bzw. der Vorgesetzten (beispielsweise eine Anzeige und Kündigung).

Auch Konflikte in der Paarbeziehung können sich statt beim Partner oder bei der Partnerin beim Kind entladen, teilweise ganz bewusst (denn das Kind kann einen im Gegensatz zum Partner nicht einfach „verlassen“ oder die Beziehung aufkündigen), teilweise jedoch auch unbewusst – etwa wenn ein augenscheinlich kindliches „Fehlverhalten“ zusätzlich zum bereits existierenden Konflikt auftritt, das das Fass zum Überlaufen bringt und dieses „Fehlverhalten“ mittels einer gewaltvollen Handlung „korrigiert“ wird.

Photo by Jess Zoerb on Unsplash
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WAS SIND DIE FOLGEN VON GEWALT IN DER KINDHEIT?

Gewalt in der Kindheit hat verheerende Folgen für die Kinder, sowohl für ihre psychische als auch körperliche Gesundheit. Das Risiko für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen wie etwa Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen ist bei den betroffenen Kindern erhöht. Selbst die Gehirnstrukturen verändern sich infolge von Gewalterfahrungen.

Darüber hinaus steigert erfahrene Gewalt das Risiko, erneut Gewalt im Leben zu erfahren oder auch selbst gewalttätig zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, Kinder vor emotionaler und körperlicher Gewalt zu schützen.

WAS KANN ICH TUN, WENN ICH MEINE KINDER SCHLAGE?

Wenn Sie sich selbst gegenüber eingestehen können, dass Sie Gewalt ausgeübt haben, ist das ein erster möglicher Schritt, um aus der Gewaltspirale auszusteigen. Wichtig ist es an dieser Stelle den bzw. die Auslöser für die Gewalt ausfindig zu machen und sie nach Möglichkeit zu reduzieren oder bestenfalls ganz zu eliminieren.

Bei Erziehungsschwierigkeiten kann es hilfreich und entlastend sein, eine entsprechende (beispielsweise psychologische) Beratungsstelle aufzusuchen, sich freundschaftliche und/oder familiäre Unterstützung zu suchen und gegebenenfalls auch eine Psychotherapie zu beginnen. Dabei geht es nicht darum, Ihnen Ihr Kind zu entziehen, sondern darum, sowohl den Ursachen auf den Grund zu gehen als auch nach konkreten Lösungsstrategien zu suchen, die die Ausübung von Gewalt verhindern. 

Greifen Sie auf Unterstützung zurück, wenn Sie bemerken, dass Sie wiederholt die Kontrolle über Ihr Handeln verlieren.

Führen Sie sich die weitreichenden Konsequenzen für Ihr Kind vor Augen, wenn Sie einen vermeintlichen Sieg über das sogenannte „Fehlverhalten“ (was häufig nichts anderes darstellt, als die ganz normale Entwicklung kindlichen Autonomiestrebens – oder der Lernprozess, die eigenen kindlichen Emotionen zu regulieren) erringen.

Versetzen Sie sich in die Perspektive Ihres Kindes, wenn Ihre Gefühle hochkochen und Sie den Impuls, es verbal oder körperlich anzugehen, verspüren – es ist Ihnen und Ihrem Verhalten in seiner kindlichen Ohnmacht und Hilflosigkeit ausgeliefert.

Fragen Sie sich immer wieder, ob Sie auch mit den Erwachsenen in Ihrem Umfeld so umgehen würden, wie Sie es mit Ihrem Kind tun (Drohen, Schreien, Schläge etc.).

Lernen Sie Ihre Triggerpunkte kennen und bereiten Sie sich auf herausfordernde Situationen vor (Termindruck, Schlafmangel, scheinbar fehlende Kooperation, das Abdecken eigener Grundbedürfnisse wie Durst, Hunger, Toilettengang etc.).

Und ganz wichtig: Gestehen Sie Ihrem Kinder gegenüber ein, dass Ihr Verhalten nicht in Ordnung war. Bitten Sie Ihr Kind um Entschuldigung, erklären Sie ihm, dass Ihr Verhalten falsch war und nicht vorkommen darf.

Photo by Jackson David on Unsplash
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WARUM SIE NICHTS VERZEIHEN MÜSSEN

Häufig verlangen die betagten Eltern, die „Vergangenheit doch endlich ruhen zu lassen“, es sei schließlich alles „nicht so schlimm gewesen“, „alle hätten es so gemacht“, „damals wäre es erlaubt gewesen“ und „geschadet hätte es ja auch nicht“. (Und indirekt häufig auch die Frage: „Und wer wisse schon, was heute aus Ihnen geworden wäre, wenn man Sie nicht geschlagen hätte?“) 

Nein, Sie müssen Ihren Eltern weder vergeben noch verzeihen. Sie müssen es auch nicht vergessen oder verdrängen, um ein zufriedenstellendes und glückliches Leben führen zu können.

Sie dürfen es, wenn Sie es möchten und sich die Vergebung stimmig für Sie anfühlt – aber Sie müssen es nicht, weil es von Ihnen erwartet oder verlangt wird.

Es gibt eine gleichermaßen berührende wie ergreifende Szene im Film „Good Will Hunting“ mit den Schauspielern Matt Damon und Robin Williams, in der Robin Williams in der Rolle des Therapeuten die Worte „Du kannst nichts dafür.“ mehrfach wiederholt, um Will – seinem Patienten (Matt Damon) – zu verdeutlichen, dass er keine Schuld an dem trug, was ihm in der Kindheit widerfahren war.

Diese Worte wiederholt er immer wieder, bis sein Patient Will (Matt Damon) dem erlittenen Schmerz über seine gewaltvolle Kindheit freien Lauf lassen kann und dabei Halt, Fürsorge und Verständnis erfährt. 

SIE KONNTEN NICHTS DAFÜR

In seinem Leid gesehen zu werden und es sich selbst zuzugestehen, Leid erfahren zu haben, als man klein und ohnmächtig war, sich nicht wehren oder schützen konnte, kann sehr schmerzvoll und befreiend zugleich sein. 

Das, was Sie erlebt und erfahren haben, war weder Ihre Schuld noch Ihre Verantwortung. Sie konnten nichts dafür.

Sie konnten nichts dafür.

Photo by Mercedes Bosquet on Unsplash
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Meine Frage an Sie:

Haben Sie in Ihrer Kindheit Gewalt erfahren? Gab es jemanden, der Sie unterstützte und für Sie da war? Was würden Sie dem Kind von damals heute gerne sagen?

Eine wichtige Erinnerung an Sie

  • Sie müssen weder vergeben noch verzeihen, nur weil es von Ihnen erwartet oder verlangt wird
  • Sie dürfen den Schmerz zulassen und trauern – und Sie dürfen ihn mit der Zeit auch Stück für Stück loslassen.
  • Es war nicht Ihre Schuld.
  • Es. War. Nicht. Ihre. Schuld.

Wenn Sie bei diesem Prozess eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir.

 

Weitere Kanäle, auf denen Sie regelmäßig neue Inhalte von mir finden, sind derzeit Facebook und Instagram.

 

© 2023 Romy Fischer

Scham – das unerträgliche Gefühl, ein Fehler zu sein

Photo by Stefano Pollio on Unsplash
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Scham – das unerträgliche Gefühl, ein Fehler zu sein 

Scham ist eine der Emotionen, die am schwierigsten auszuhalten ist, denn sie erstreckt sich nicht nur auf unsere Handlungen, sondern auf unser gesamtes Selbst. Wer sich schämt, möchte im Erdboden versinken, unsichtbar werden oder gar ganz aufhören, zu existieren. Oft ist sie mit einem tiefen Gefühl der eigenen Unvollkommenheit verknüpft und der Annahme, weder liebenswert noch kompetent zu sein.

Sich zu schämen, kann gleichbedeutend mit der Meinung über sich selbst sein, keine Existenzberechtigung zu haben, unerwünscht zu sein oder eine völlige Fehlkonstruktion. Ein Fehler, den es auszumerzen gilt.

Wie tiefgreifend Scham das Leben beeinflussen und beeinträchtigen kann und warum sie trotz allem eine wichtige Funktion hat, erfahren Sie im heutigen Beitrag.

SCHAM UND SCHULD

Während das Empfinden von Schuld bzw. Schuldgefühlen sich häufig auf ein reales oder vermeintliches (Fehl-) Verhalten bezieht, stellt das Schamerleben eine Emotion dar, die fundamental ist und das eigene Selbst massiv zu entwerten droht – bis hin zu massiven Suizidgedanken.

Literarisch wird dieses Erleben etwa in der Novelle „Leutnant Gustl“ von Arthur Schnitzler verarbeitet. Darin wird erzählt, wie der junge Leutnant Gustl während einer Konfrontation mit einem Bäcker in seiner militärischen Ehre als Offizier so stark verletzt wird, dass er keine Alternative zum Suizid sieht.

Photo by Aaron Burden on Unsplash
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MÖGLICHE URSPRÜNGE VON SCHAM 

Scham – das unerträgliche Gefühl, ein Fehler zu sein. Woher kommt dieses Erleben eigentlich? Oftmals nimmt es seinen Anfang bereits in der frühen Kindheit – im Kleinkindalter ab ungefähr zwei bis drei Jahren. Das Schamerleben der engsten Bezugspersonen – in der Regel die Eltern – spielt dabei eine große Rolle. 

Eigene und übernommene Wertvorstellungen, Normen, Traditionen und kulturelle Praktiken prägen das elterliche Schamempfinden. Das kann sich auf die eher körperlichen Aspekte (beispielsweise Nacktheit, Lustempfinden), auf die Emotionen (zum Beispiel Wut, Trauer) oder auch auf die Vorstellung darüber, was richtig oder falsch ist (etwa Männer dürfen nicht weinen, Frauen sollen weiblich sein), beziehen.

Körperliche Nähe zum eigenen Kind kann dann beispielsweise als schambesetzt erlebt werden, was zu einer Distanzierung auf körperlicher, aber zugleich auch emotionaler Ebene führt. Ebenso kann das Stillen oder Wickeln mit Gefühlen von Scham verbunden sein; aber auch im weiteren Verlauf kann das bloße Verhalten des Kindes Scham bei den Eltern auslösen (wie kindliche Wutausbrüche in der Öffentlichkeit). Dies ist bekannt als sogenannte Fremdscham. 

Bei Fremdscham etwa werden ähnliche Hirnareale aktiviert, wie beim Anblick körperlichen Schmerzes von anderen Personen. Damit ist das Schamerleben stark körperlich verankert und zählt zu den aversiven, d. h. unangenehmen Emotionen.

Photo by charlesdeluvio on Unsplash
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TRAUMATISCHE SCHAM – WENN ELTERN SCHAM ALS ERZIEHUNGSMETHODE MISSBRAUCHEN 

Das Resultat einer Erziehung, die auf Scham und Beschämung ausgelegt ist, ist häufig ein braves und angepasstes Kind. Im Extremfall ist es so angepasst und ausgerichtet auf die elterlichen Erwartungen, dass es zum Vorzeige-Kind mutiert, indem es eigene Bedürfnisse verleugnet oder gar nicht mehr wahrnehmen kann, existenziell abhängig vom elterlichen Wohlgefallen ist und eine innere Einsamkeit und Leere in sich spürt.

Meist legen die Eltern von sogenannten Vorzeige-Kindern großen Wert auf die intensive Förderung ihres Nachwuchses: Sie investieren viel Zeit und Geld und scheuen keine Mühe, um ihren Kindern den Platz zu sichern, der ihnen nach elterlicher Meinung rechtmäßig zusteht. Doch Kinder, die daran gewöhnt sind, stets wie Vorzeigeobjekte behandelt zu werden, bemessen ihren Wert zunehmend nur noch daran, wie „vorzeigbar“ sie sind – in ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrer schulischen Leistung, ihren Erfolgen im Sport und/oder ihrem grundsätzlichen Verhalten im Umgang mit anderen. (aus Dysfunktionale Familien: Die Rolle des Vorzeige-Kindes)

Ein weiterer Schutzmechanismus besteht darin, die erlebte Scham damit abzuwehren, die Rolle des Clowns zu übernehmen und über sich selbst zu lachen, bevor es jemand anderes tut. Obwohl Humor eine hilfreiche Strategie gegen das Schamerleben darstellt, kann sie – wenn sie die einzige Reaktion darstellt – sich ins Gegenteil verkehren. Wer sich selbst niemals ernst nimmt, hält es dann auch häufig nicht aus, von anderen wirklich ernst genommen zu werden. Der Humor und das Lachen werden zu einer schützenden Fassade, hinter der sich Gefühle wie Einsamkeit, Trauer, Angst oder Leere verbergen. (aus Dysfunktionale Familien: Die Rolle des Clowns)

Jemanden zu beschämen – insbesondere dann, wenn es sich um die kleinsten und schutzlosesten unserer Mitmenschen handelt, die Kinder und Jugendlichen – greift das fundamentale Erleben des Selbst an.

Einem beschämten Kind wird vermittelt, dass es falsch sei, mit ihm etwas ganz und gar nicht stimme, es ein Fehler sei oder sogar besser gar nicht erst existiere. Die Folgen sind gravierend und können von einem geringen Selbstwertgefühl bis hin zu wiederkehrenden Suizidgedanken reichen.

Photo by Paul Kapischka on Unsplash
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WARUM SCHAM TROTZDEM WICHTIG IST

Scham hat allerdings nicht nur Schattenseiten, sondern erfüllt auch überaus wichtige Funktionen im sozialen Miteinander. Wann immer es um die Einhaltung von Normen und Werten geht, kann das Schamgefühl ein wichtiger Signalgeber dafür sein, was in der sozialen Umgebung angebracht ist und was nicht. Dies ist kulturell geprägt und bezieht sich auf unterschiedliche Lebensbereiche.

Verhaltensweisen, die beispielsweise im Privaten völlig in Ordnung sein können – Nacktheit in den eigenen Wohnräumen etwa – können im öffentlichen Raum nicht nur als anstößig erlebt werden, sondern auch rechtliche Folgen nach sich ziehen. In Abhängigkeit vom Kontext, von räumlicher und zeitlicher Dimension (aber auch Geschlecht, sozialem Status oder Alter) können die Bewertungen dabei ganz unterschiedlich ausfallen.

Wenn wir bei der individuellen Scham bleiben, so lässt sich das Schamerleben als eine gesunde Grenze dessen definieren, was unsere menschliche Würde und damit unser Menschsein schützt. Scham hat somit eine Schutzfunktion inne, indem sie eine Grenze markiert, die sich auf körperlicher Ebene sehr deutlich zeigt: Erröten, Herzklopfen, Schwitzen oder auch Ohnmachtsgefühle.

Photo by Ian Keefe on Unsplash
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ANZEICHEN FÜR EINE UNGESUNDE SCHAM

Vielleicht stehen Sie jetzt vor der Frage, ob das Ausmaß an Scham, das Sie regelmäßig erleben, noch in einem „normalen“ Rahmen liegt oder ob Sie an ungesunder Scham leiden. Um Ihnen dabei zu helfen, diese Frage zu beantworten, möchte ich Ihnen einige Aspekte nennen, die eher für eine ungesunde Scham bzw. ein ungesundes Schamerleben sprechen.

Folgende Anzeichen sprechen für eine ungesunde Tendenz:

    • Ihr Schamerleben hindert Sie daran, Dinge in Angriff zu nehmen, die Ihnen wichtig sind und am Herzen liegen.
    • Sie schrecken vor engen Beziehungen zurück, weil Sie befürchten, dass der bzw. die Andere Sie so sehen könnte, wie Sie wirklich sind.
    • Es fällt Ihnen sehr schwer, sich authentisch zu zeigen. Lieber flüchten Sie sich hinter eine Maske oder Fassade, um Ihr wahres Selbst zu verbergen.
    • Ihr Schamerleben schränkt Ihren Alltag massiv ein; Sie ziehen sich sozial zurück, können (entgegen Ihrem Wunsch) keiner Berufstätigkeit nachgehen und empfinden immer weniger Lebensfreude und -zufriedenheit.
    • Beziehungen scheitern immer wieder an dem Punkt, an dem es darum geht, sich seinem Partner bzw. seiner Partnerin zu öffnen und dabei auch verletzlich zu zeigen.
    • Sie fühlen sich falsch, ganz gleich, was Sie tun oder nicht tun. Sie glauben nicht, dass es eine Rolle spielt, ob Sie leben.
    • Sie kämpfen immer wieder mit Suizidgedanken.

Was Sie tun können

Der erste Schritt besteht zunächst einmal darin, sich der schmerzvollen Emotion bewusst zu werden, um sie in einem weiteren Schritt zu akzeptieren. Das bedeutet nicht, sie hinzunehmen oder zu resignieren, sondern den Ist-Zustand – das Gefühl von Scham – anzunehmen und den Schmerz darüber zuzulassen. Gerade dann, wenn es sich um einen alten Schmerz handelt, ist es wichtig, behutsam mit sich und seinen Emotionen umzugehen. 

Je stärker Ihr Schamerleben ist und je mehr es Sie in Ihrem Alltag, Ihren Beziehungen, Ihrem Beruf und Ihren Freizeitaktivitäten einschränkt, desto wichtiger ist es, dass Sie sich dabei professionell unterstützen lassen. Bei traumatischer Vorgeschichte und starker Belastung ist meiner Erfahrung nach eine Psychotherapie sehr sinnvoll. Zur Suche nach einem freien Therapieplatz können Sie Ihre Krankenkasse kontaktieren, die in der Regel eine Liste von Psychotherapeut:innen bereitstellt.

Dabei sollten Sie sich keinesfalls entmutigen lassen, auch wenn die Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz unzumutbar lang ist. 

Photo by Mercedes Bosquet on Unsplash
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Meine Frage an Sie:

Wie ist Ihr Verhältnis zur Scham? Was hätten Sie sich als Kind und/oder Jugendliche in für Sie beschämenden Momenten gewünscht? Wie gehen Sie heute damit um, wenn Sie Scham empfinden?

Eine wichtige Erinnerung an Sie

  • Sie sind wertvoll. Ohne Wenn und Aber.

Wenn Sie bei dem Prozess der Aufarbeitung Ihrer Scham bzw. eines übermäßigen Schamerlebens eine empathische Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir. Sofern allerdings traumatische Ereignisse in Ihrem Leben vorlagen, lege ich Ihnen eine Psychotherapie nahe.

 

Weitere Kanäle, auf denen Sie regelmäßig neue Inhalte von mir finden, sind derzeit Facebook und Instagram.

 

© 2023 Romy Fischer